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Liebe aus Österreich: Poesie aus dem Automaten

 

In seiner vielzitierten Nobelpreisrede von 1987 forderte der russisch-amerikanische Lyriker Joseph Brodsky, dass Gedichte an jeder Tankstelle und Klassiker in billigen Ausgaben erhältlich sein sollten. Sie seien der gedankliche Treibstoff für den Tag, ein „kolossaler Beschleuniger des Bewusstseins, des Denkens, der Wahrnehmung der Welt“.  Matthias Göritz - Lyriker, Romanautor und Prof. in St. Louis/Missouri - hat diese Idee für Leipzig konkretisiert:

Drei „Leipziger Poesieautomaten“ mit ihren pfiffigen Distributions-Maschinen, aus denen normalerweise Spielereien für Kinder, erfrischende Bonbons oder Kondome gezogen werden, sind zu einer lyrischen Raumin(ter)vention umfunktiert worden und werden elf Monate lang bis zum Ende der Leipziger Buchmesse 2023 an drei Standorten Poesie ausgeben: Im Literaturhaus Leipzig, in der Stadtbibliothek Leipzig und in der Schaubühne Lindenfels. 42 Künstler:innen haben die Werke für diese Aktion geschrieben und zur Verfügung gestellt.

An dem Automaten, der an der Fassade der Schaubühne angebracht ist, direkt am Bürgersteig, gibt es nach Einwurf eines 50-Cent-Stücks Gedichte von österreichischen Autor:innen zum Mitnehmen – als Vorgeschmack zum Gastlandauftritt Österreichs bei der Leipziger Buchmesse, bei dem die Schaubühne als Stadtzentrale fungieren wird.

 

,, [...] Mich hat es immer erstaunt, wie poetische Texte ganz wörtlich genommen neue Räume eröffnen, nicht nur in der Kombinatorik, sondern eben ganz konkret als Begegnungen mit Gedichten im Alltag. Jedes Kind kennt das Staunen vor Automaten – an Bahnhöfen, Haltestellen, Ecken, Straßen. Dieses Staunen trägt etwas von dem „Geheimniszustand“ in sich, von dem die dänische Lyrikerin Inger Christensen – der mit Alfabet eine der klügsten formalen Experimente der jüngeren Lyrikgeschichte gelang –  sich sicher ist, dass ein Gedicht ihn erzeugen kann. Nun muß man als Kind und auch als Erwachsener weder Novalis gelesen haben noch Christensen, um diese Erregung vor dem hinter Glas, Metall, Aufschrift und in der Mechanik Verborgenen zu verstehen. Verse können Schichten in uns berühren, die sonst nicht erklingen. Das poetische Spiel ist auch ein Spiel im und mit der Leserin und dem Leser. Meine Hoffnung ist, dass all die Literatur-Häuser, Foren, Institutionen und ein klein wenig auch unsere Poesie-Automaten, dazu beitragen, dass Ideen und Fantasien uns wirklich verändern. Dann wird der Juni-Vers zum universe, zum Tagesorakel, vielleicht auch zum Wunder - und darauf kommt es letztlich an in der Literatur: kleine Wunderkammern zu schaffen für manche neue Lyrikleserin und manchen neuen Leser."

(Matthias Göritz)